Ist das Wetter wirklich schuld an Migräneattacken?

Migräne ist die häufigste Volkskrankheit. Nun werten Forscher die Daten Hunderter Patienten aus, um herauszufinden, wie sich Attacken vermeiden lassen. Und ob tatsächlich das Wetter eine Rolle spielt.
Am strahlend blauen Himmel leuchtet die Sonne, die Alpen wirken zum Greifen nah. Ein Traumtag – wenn nur nicht dieser fiese Kopfschmerz, die Übelkeit und das gleißende Licht wären. „Der Föhn halt“, sagt man dann in München.
Ob das Wetter wirklich schuld ist an Migräneattacken, das untersuchen Wissenschaftler der Hochschule Hof. Die bisher vorliegenden Daten stammten meist nur von einzelnen Kopfschmerzkliniken oder Ambulanzen und waren daher nur regional aussagekräftig. Das „Migräneradar“ der Hochschule Hof deckt dagegen nun erstmals den gesamten deutschsprachigen Raum ab und hat jetzt schon 800 Teilnehmer.
Unter der Leitung von Jörg Scheidt, Professor und Leiter des Instituts für Informationssysteme an der Fachhochschule Hof, werden dazu in Deutschland, Österreich und der Schweiz über das Internet Daten von Migränepatienten gesammelt und zusammen mit der Uniklinik Rostock sowie der Migräne- und Kopfschmerzklinik Königstein ausgewertet.
Migränetagebuch per App
Seit Juni ist das „Migräneradar 2.0“ im Netz, eine App für Android ist ebenfalls kostenlos verfügbar. Jetzt loggen sich die Patienten persönlich ein, jede Angabe kann also einem bestimmten Teilnehmer zugeordnet werden. Davon haben die Migränepatienten auch ganz praktische Vorteile: Wer in ärztlicher Behandlung ist, wird oft aufgefordert, ein Migränetagebuch zu führen. „Die Teilnahme an unserem Projekt beinhaltet jetzt ein solches Tagebuch und ist eine individuelle Kopfschmerzauswertung“, sagt Scheidt.
Wenn solche Zusammenhänge tausendfach als Datenmaterial vorhanden sind, dann ist die wissenschaftliche Basis für Abhilfe geschaffen. Es ist die Menge, die den Erfolg des Migräneradars ausmacht. Das Ziel ist laut Scheidt „die größte Sammlung von Anfallsdaten weltweit“. Und er ist zuversichtlich: „Wenn 1000 Teilnehmer kontinuierlich ein, zwei Jahre mitmachen, dann können wir verlässliche Aussagen tätigen.“ Zum Beispiel, ob wirklich der Föhn schuld ist an der Migräne beim Münchner.
Heilbar ist die Krankheit bis heute nicht
Der Begriff Migräne stammt aus dem Altgriechischen und bedeutet so viel wie „halber Schädel“. Sie ist eine neurologische Erkrankung, unter der rund zehn Prozent der Bevölkerung leiden. Sie tritt bei Frauen etwa dreimal so häufig auf wie bei Männern. Bei Erwachsenen äußert sie sich typischerweise durch einen periodisch wiederkehrenden, anfallartigen, pulsierenden und halbseitigen Kopfschmerz.
Weitere Symptome sind Übelkeit und Erbrechen sowie Licht- oder Geräuschempfindlichkeit. Bei manchen Patienten geht einem Migräneanfall eine sogenannte Migräneaura voraus, während der optische oder sensible Wahrnehmungsstörungen auftreten können. Es sind aber auch motorische Störungen möglich.
Erste Behandlungsversuche sind bereits aus der Jungsteinzeit bekannt. Heilbar ist Migräne bis heute nicht, es gibt jedoch verschiedene Behandlungsmethoden mit Medikamenten, aber auch nichtmedikamentöse Ansätze wie Aromatherapien oder schlichtweg Ruhe und Abschirmung vor Reizen wie Licht oder Geräuschen.
Das Hofer Projekt hat seine Wurzeln in der Teilnahme in einem Wettbewerb des Bundesbildungsministeriums: Eine Studentengruppe – drei der fünf Informatiker sind selbst von Migräne betroffen – wollte herausfinden, welchen Einfluss das Wetter auf Migräne-Attacken hat und sammelte dazu via Twitter und Internet Migräne-Meldungen, die sie zu Wetterdaten in Relation setzte. „Dass es einen Zusammenhang zwischen Migräne und Wetter gibt, sagt man immer, aber das war bisher noch nicht nachgewiesen“, erklärt Jörg Scheidt. Ausgangspunkt war zunächst weniger die medizinische Seite als vielmehr das Thema „Data Mining“, bei dem es um die Sammlung und Verarbeitung großer Datenmengen geht. „Mit dem Internet kann man sehr viel größere Gruppen erreichen, darum geht es“, erläutert Scheidt.
Auch zwei Kliniken sind bei dem Projekt dabei
Mittlerweile hat das Projekt eine neue Dimension erreicht: Seit diesem Jahr sind zwei spezialisierte Kliniken mit im Boot und beteiligen sich an der medizinischen Gestaltung und Auswertung der Erhebung. Charly Gaul, Chefarzt der Migräne- und Kopfschmerzklinik Königstein sowie der Diplompsychologe Peter Kropp, Direktor des Instituts für Medizinische Psychologie der Universität Rostock, haben den anfangs unpersonalisierten Fragebogen angepasst, sodass nun mehr Details über den Patienten und seinen Kopfschmerz erhoben werden.
Scheidt erläutert: „Anfangs haben wir nur die Migräneanfälle gesammelt, wir wussten aber nicht, ob die von mehreren oder nur einer Person eingegeben worden waren.“ Eine weitere Unsicherheit: Ob Migräne oder nur Spannungskopfschmerz vorlagen, gaben die Patienten nach eigener Einschätzung an.
Das Migräneradar macht auch die Analyse konkreter. Denn jetzt wird auch klar unterschieden zwischen Spannungskopfschmerz und echter Migräne: „Wenn Übelkeit, Licht- und Geräuschempfindlichkeit sowie eine Zunahme des Kopfschmerzes bei Anstrengung hinzukommen, dann spricht man von Migräne“, sagt der Kopfschmerz-Fachmann Charly Gaul. Entsprechend ist der Fragebogen aufgebaut. Außerdem werden zum Beispiel Umstände, Häufigkeit, Intensität der Attacken abgefragt.
Daten sollen zeigen, wodurch Migräne ausgelöst wird
Die Datensammler in Hof erkennen an den Daten die Migräne-Auslöser: Sie können etwa sehen, wie viele Patienten nach einem Wetterumschwung, bei Stress oder nachlassendem Stress Migräne bekommen. Und auch die Hintergrundinfos werden eingespeist: Ob es jüngere oder ältere Menschen sind, ob es eher Frauen oder Männer sind. Ob in der Familie bereits Migräne vorkam, ob die geografische und die Wetterlage eine Rolle spielen.
„Wenn wir erkennen, wo Zusammenhänge existieren und wo eben nicht, können wir auch Methoden zur Vermeidung von Migräneattacken entwickeln oder optimieren“, sagt Peter Kropp, der auch Vizepräsident der Deutschen Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft ist. Der Psychologe weist auch auf einen möglichen mentalen Aspekt bei Migränepatienten hin: „Wenn jemand zweimal hintereinander am Wochenende oder bei einer Klassenarbeit Migräne bekam, dann stellt sich sein Kopf darauf ein und hat am dritten Wochenende oder bei der dritten Klassenarbeit vielleicht wieder Migräne. Diese Konditionierung gilt es zu durchbrechen.“
Auch dabei helfen die gesammelten Daten: Das Protokoll im Migräneradar kann auch andere Zusammenhänge als nur „Stressabfall am Wochenende“ oder „Prüfungsangst“ aufdecken. Nämlich zum Beispiel, dass „der normale Schlaf-Wach-Rhythmus durcheinandergeraten ist und deshalb am Wochenende vielleicht eher die Migräne kommt“, ergänzt Kropps Kollege Gaul.
Quelle: Welt N24 von Anja-Maria Meister vom 26.10.2015
Internet: www.welt.de/regionales